Strukturierte Interviews – Ein Leitfaden

Die ultimative Schritt-für-Schritt-Anleitung für perfekte Bewerbungsgespräche

Du suchst nach einer Methode, um wirklich die besten Talente für Dein Unternehmen zu finden? Dann sind strukturierte Interviews ein Schlüssel zum Erfolg. Mit einem Validitätskoeffizienten von 0,58 übertrifft es alle anderen gängigen Auswahlverfahren deutlich – von unstrukturierten Gesprächen über Persönlichkeitstests bis hin zur reinen Bewertung von Lebensläufen. In dieser umfassenden Anleitung zeige ich Dir, wie Du Schritt für Schritt ein strukturiertes Interview aufbaust, das Dir nicht nur Zeit spart, sondern auch die Qualität Deiner Einstellungsentscheidungen massiv verbessert. Du erhältst konkrete Beispiele für Fragen, Bewertungsschemata und praxiserprobte Tipps – alles, was Du brauchst, um sofort loszulegen.​

(Eine deutlich kürzere Erklärung, was strukturierte Interviews sind, findest Du hier)

Was ist ein strukturiertes Interview und warum ist es so effektiv?

Strukturierte Interviews sind eine wissenschaftlich fundierte Methode der Personalauswahl, bei der allen Bewerbenden dieselben Fragen in derselben Reihenfolge gestellt werden. Anders als beim klassischen freien Gespräch, bei dem spontan und oft „aus dem Bauch heraus“ gefragt wird, folgt das strukturierte Interview einem vorab definierten Leitfaden mit standardisierten Bewertungskriterien.​

Der entscheidende Unterschied liegt in der Vergleichbarkeit und Objektivität: Während unstrukturierte Interviews nur eine Validität von 0,33* aufweisen, erreichen strukturierte Interviews beeindruckende 0,58 – das bedeutet, sie können die zukünftige Arbeitsleistung fast doppelt so gut vorhersagen. Diese Überlegenheit resultiert aus mehreren Faktoren. Der systematische Ansatz reduziert unbewusste Vorurteile, die sogenannten Bias-Effekte, die in freien Gesprächen häufig zu Fehlentscheidungen führen.​

Das strukturierte Interview basiert auf der Grundannahme, dass vergangenes Verhalten der beste Prädiktor für zukünftiges Verhalten ist. Statt hypothetischer Fragen wie „Sind Sie teamfähig?“ werden Bewerbende gebeten, konkrete Beispiele aus ihrer beruflichen Vergangenheit zu schildern. Diese Verhaltensbeweise liefern aussagekräftige Einblicke in tatsächliche Kompetenzen und nicht nur in theoretisches Wissen.​

*Aktuelle Studien zeigen übrigens, dass unstrukturierte Interviews eventuell etwas besser performen könnten als vorher angenommen, mit strukturierten ist die Validität jedoch auch heute noch höher. Ich diese Zahlen auch erst anpassen, wenn die neuen Studien empirisch ordentlich nachgewiesen sind.

Validität verschiedener Auswahlmethoden im Recruiting

Das strukturierte Interview führt mit einem Koeffizienten von 0.58

Für Unternehmen bedeutet das strukturierte Interview nicht nur bessere Einstellungsentscheidungen, sondern auch Rechtssicherheit und Fairness. Alle Kandidat*innen werden nach denselben Kriterien bewertet, was Diskriminierungsvorwürfe minimiert und die Arbeitgebermarke stärkt. Zudem reduziert die Methode die Kosten von Fehlbesetzungen erheblich – eine Probezeitkündigung kostet durchschnittlich mehr als ein Jahresgehalt.​

Die drei Fragetypen im strukturierten Interview

Das Herzstück eines strukturierten Interviews sind die richtigen Fragen. Es gibt drei bewährte Fragetypen, die je nach Position und Anforderungsprofil kombiniert werden können. Jeder Typ erfüllt einen spezifischen Zweck und liefert unterschiedliche Erkenntnisse über die Bewerbenden.

Situative Fragen

Zukünftiges Verhalten antizipieren

Situative Fragen präsentieren hypothetische, aber realistische Szenarien, die in der zukünftigen Position auftreten könnten. Sie basieren auf der Zielsetzungs-Theorie und testen, wie Bewerbende in bestimmten Situationen reagieren würden. Diese Frageform eignet sich besonders für Berufseinsteigerinnen oder Quereinsteigerinnen, die noch keine direkten Erfahrungen mit ähnlichen Situationen vorweisen können.​

Beispiele für situative Fragen:

  • „Stellen Sie sich vor, Sie arbeiten gerade an einer wichtigen Präsentation, die in zwei Wochen fertig sein muss. Sie haben allerdings noch sehr viele andere Aufgaben zu erledigen, die unterschiedlich wichtig sind. Wie würden Sie sich in einer solchen Situation verhalten?“​
  • „Wie würden Sie damit umgehen, wenn eine Top-Mitarbeiterin überraschend kündigt und Sie das Team stabilisieren müssen?“​
  • „Was würden Sie tun, wenn ein Schlüsselprojekt zu scheitern droht und Ihr Team völlig demotiviert ist?“​

Der Vorteil situativer Fragen liegt darin, dass sie die Denkweise und den Lösungsansatz der Bewerbenden offenlegen. Allerdings besteht die Gefahr, dass Kandidat*innen theoretisch „richtige“ Antworten geben, die nicht unbedingt ihrem tatsächlichen Verhalten entsprechen.​

Biografische bzw. erfahrungsbasierte Fragen

Vergangenes Verhalten analysieren

Biografische Fragen sind vergangenheitsbezogen und fragen nach tatsächlichen Situationen, in denen Bewerbende bestimmte Verhaltensweisen gezeigt haben. Sie folgen dem Prinzip, dass vergangenes Verhalten der beste Indikator für zukünftiges Handeln ist. Diese Frageform ist besonders effektiv für erfahrene Fachkräfte und Führungspersonen.​

Beispiele für biografische Fragen:

  • „Beschreiben Sie eine Situation, in der Sie einem schwierigen Kunden weiterhelfen konnten. Wie sind Sie vorgegangen? Was war das Ergebnis?“​
  • „Erzählen Sie von einer Situation, in der Sie ein Team durch eine Phase hoher Unsicherheit geführt haben.“​
  • „Nennen Sie ein Beispiel, wie Sie in der Vergangenheit zum Erfolg eines Teams beigetragen haben. Was haben Sie konkret getan?“​

Die Stärke biografischer Fragen liegt in ihrer hohen Validität – sie liefern konkrete Belege für tatsächliches Verhalten statt theoretischer Absichtserklärungen. Meta-Analysen zeigen, dass biografische Interviews mit einem Validitätskoeffizienten von 0,31 deutlich über dem von Persönlichkeitstests liegen.​

Kulturbezogene Fragen

Werte und kulturelle Passung erkennen

Kulturbezogene Fragen zielen darauf ab, die Wertvorstellungen, Haltung und kulturelle Passung der Bewerbenden zur Organisation und zum Team zu ermitteln. Sie sind besonders wichtig, wenn der Cultural Fit eine entscheidende Rolle für den langfristigen Erfolg spielt.​​

Beispiele für kulturbezogene Fragen:

  • „Welche Rolle spielen Vertrauen und Transparenz in Ihrer Führung?“​
  • „Wie gehen Sie mit Teammitgliedern um, die dauerhaft unterdurchschnittlich performen?“​
  • „Was bedeutet Diversität für Sie und wie leben Sie sie in Ihrem Führungsalltag?“​
  • „Welche Aspekte einer Unternehmenskultur sind Ihnen so wichtig, dass deren Fehlen Sie dazu bewegen würde, ein Jobangebot abzulehnen?“

Diese Fragen offenbaren, ob die Grundwerte der Bewerbenden mit der Unternehmenskultur harmonieren. Sie helfen, die intrinsische Motivation und das langfristige Engagement besser einzuschätzen.​

Schritt 1 für den Aufbau eines strukturierten Interviewleitfadens

Das Anforderungsprofil als Fundament

Bevor Du überhaupt die erste Interviewfrage formulierst, musst Du genau wissen, wen Du eigentlich suchst. Das Anforderungsprofil ist das Fundament jedes strukturierten Interviews und definiert, welche Kompetenzen, Qualifikationen und Eigenschaften für die Position entscheidend sind.​

Aufgabenanalyse: Was muss die Person konkret tun?

Startet mit einer detaillierten Ist-Analyse der Position. Wenn die Stelle bereits besetzt ist, befragt die aktuelle stelleninhabende Person nach ihren täglichen, wöchentlichen und gelegentlichen Aufgaben. Falls es sich um eine neue Position handelt oder der bisherige Mitarbeiter nicht mehr verfügbar ist, zieht Kolleg*innen und Vorgesetzte im näheren Arbeitsumfeld zu Rate.​

Erstellt eine übersichtliche Liste aller Arbeitsaufgaben und gliedert diese beispielsweise nach:

  • Zeitlichen Kriterien: tägliche, wöchentliche, monatliche oder projektbezogene Tätigkeiten
  • Verantwortungsebenen: operative, koordinierende oder strategische Aufgaben
  • Wichtigkeit: Kernaufgaben vs. Nebenaufgaben​

Kompetenzableitung: Welche Fähigkeiten sind erforderlich?

Aus den Aufgaben leitet Ihr nun die notwendigen Kompetenzen ab. Strukturiert diese in vier Kategorien:​

1. Formale Anforderungen

  • Abschlüsse, Zertifikate, Weiterbildungen
  • Sprachkenntnisse (z.B. mindestens C1-Niveau Deutsch)
  • Berufserfahrung (Anzahl Jahre in relevanten Bereichen)

2. Fachliche Anforderungen

  • Branchenspezifische Kenntnisse
  • Technische Fähigkeiten (z.B. Softwarekenntnisse, Programmiersprachen)
  • Methodenkompetenzen (z.B. Projektmanagement-Methoden, Datenanalyse)

3. Soziale Kompetenzen (Soft Skills)

  • Kommunikationsfähigkeit
  • Teamfähigkeit
  • Konfliktfähigkeit
  • Kundenorientierung
  • Führungskompetenzen (falls relevant)

4. Personenbezogene Anforderungen

  • Belastbarkeit und Stressresistenz
  • Eigeninitiative und Lernbereitschaft
  • Flexibilität (z.B. Reisebereitschaft, Schichtarbeit)
  • Motivation und Werteorientierung

Must-have vs. Nice-to-have: Prioritäten setzen

Nicht alle Anforderungen sind gleich wichtig. Unterscheidet klar zwischen Muss-Kriterien (ohne diese kommt die Person nicht in Frage) und Wunsch-Kriterien (wären schön, sind aber nicht zwingend erforderlich).​​

Beispiel für Junior Kundenberater*in Bank:

Muss-Kriterien:

  • Abgeschlossene Bankausbildung oder vergleichbarer Abschluss
  • Deutschkenntnisse (mindestens C1)
  • Interesse an Finanzdienstleistung und Beratung

Wunsch-Kriterien:

  • Erste Erfahrung mit Kundenkontakt (z.B. Praktikum)
  • Fremdsprachenkenntnisse
  • Affinität zu Digitalthemen im Banking​

Diese Priorisierung verhindert, dass Du zu perfektionistisch wirst und potenzielle Top-Talente ausschließt, die vielleicht nicht alle Nice-to-haves mitbringen, aber in den Kernkompetenzen exzellent sind.​

Schritt 2 für den Aufbau eines strukturierten Interviewleitfadens

Entwicklung des Fragenkatalogs

Mit dem Anforderungsprofil als Grundlage entwickelst Du nun einen zielgerichteten Fragenkatalog, der alle relevanten Kompetenzen systematisch abdeckt. Jede Frage sollte einen klaren Zweck erfüllen und direkt mit den identifizierten Anforderungen verknüpft sein.​

Kompetenzbezogene Fragenentwicklung

Für jede wichtige Kompetenz aus dem Anforderungsprofil formulierst Du mindestens zwei verhaltensbasierte Fragen. Diese Redundanz ist wichtig, um ein vollständigeres Bild zu erhalten und sicherzustellen, dass Bewerbende nicht nur eine einzige gut vorbereitete Antwort präsentieren können.​

Kommunikationsfähigkeit & Kundenorientierung

  1. „Beschreiben Sie eine Situation, in der Sie einem schwierigen Kunden weiterhelfen konnten. Wie sind Sie vorgegangen?“
  2. „Wie stellen Sie sicher, dass der Kunde sich verstanden und gut beraten fühlt? Nennen Sie ein konkretes Beispiel.“​

Teamfähigkeit

  1. „Nennen Sie ein Beispiel, wie Sie in der Vergangenheit zum Erfolg eines Teams beigetragen haben.“
  2. „Was machen Sie, wenn ein Teammitglied nicht mitzieht oder die Zusammenarbeit schwierig ist?“​

Eigeninitiative & Lernbereitschaft

  1. „Wie halten Sie Ihr Wissen zu [fachspezifischem Bereich] aktuell?“
  2. „Erzählen Sie von einer Situation, in der Sie eigenständig eine Aufgabe oder Verbesserung übernommen haben.“​

Die STAR-Methode als Antwortstruktur

Um strukturierte und aussagekräftige Antworten zu erhalten, solltet Ihr im Gespräch Bewerbende ermutigen, ihre Beispiele nach der STAR-Methode zu formulieren:​

S – Situation: In welchem Kontext fand das Ereignis statt?
T – Task (Aufgabe): Welche konkrete Aufgabe oder Herausforderung lag vor?
A – Action (Handlung): Welche Schritte hat die Person konkret unternommen?
R – Result (Ergebnis): Welches Ergebnis wurde erzielt? Was wurde daraus gelernt?​

Ihr könnt dies zu Beginn des Interviews kurz erklären: „Bitte beschreiben Sie Ihre Beispiele möglichst konkret: die Ausgangssituation, Ihre Aufgabe, was Sie genau getan haben und welches Ergebnis Sie erreicht haben.“

Offene vs. geschlossene Fragen: Die richtige Balance

Strukturierte Interviews arbeiten hauptsächlich mit offenen Fragen, die ausführliche Antworten erfordern. Vermeidet Ja/Nein-Fragen wie „Arbeiten Sie gerne im Team?“ und formuliert stattdessen: „Welche Vor- und Nachteile haben Sie persönlich mit Teamarbeit erlebt?“​

Schlechte Frage (geschlossen): „Können Sie unter Zeitdruck arbeiten?“
Gute Frage (offen): „Beschreiben Sie eine Situation mit hohem Zeitdruck. Wie sind Sie damit umgegangen und was war das Ergebnis?“

Geschlossene Fragen könnt Ihr sparsam für Faktenchecks einsetzen, etwa bei formalen Qualifikationen: „Haben Sie Erfahrung mit SAP S/4HANA?“ Aber auch hier gilt: Folgt mit einer offenen Frage nach: „In welchen Projekten haben Sie damit gearbeitet und welche Module haben Sie dabei verwendet?“​

Fachliche vs. überfachliche Kompetenzen

Der Fragenkatalog sollte beide Bereiche abdecken:​​

Fachliche Fragen (am Beispiel Bankwesen):

  • „Nennen Sie drei typische Bankprodukte für Privatkund*innen und erklären Sie deren Nutzen.“
  • „Können Sie kurz erläutern, warum aus Sicht der Bank das Geldwäschegesetz besonders wichtig ist?“
  • „Welche Erfahrungen haben Sie mit Online-Banking-/CRM-Systemen?“​

Überfachliche Fragen:

  • „Wie gehen Sie mit Ablehnung durch Kund*innen um?“ (Vertriebsaffinität)
  • „Beschreiben Sie eine Situation, in der Sie mit vertraulichen Kundendaten zu tun hatten. Wie sind Sie damit umgegangen?“ (Integrität)
  • „Wie reagieren Sie, wenn Sie ein IT-System nicht wie vorgesehen nutzen können?“ (Problemlösungskompetenz)​

Schritt 3 für den Aufbau eines strukturierten Interviewleitfadens

Bewertungsschema und Scoring entwickeln

Ein strukturiertes Interview ist nur dann objektiv, wenn die Antworten nach einheitlichen, vorab definierten Kriterien bewertet werden. Das Bewertungsschema verhindert, dass subjektive Eindrücke die Entscheidung dominieren, und macht verschiedene Kandidat*innen vergleichbar.​

Die 5-Punkte-Skala: Meine Empfehlung

Die meisten erfolgreichen strukturierten Interviews nutzen eine 5-Punkte-Skala zur Bewertung jeder Kompetenz. Diese Skala bietet ausreichend Differenzierung, ohne zu komplex zu werden:​

1 Stern – Nicht beobachtet: Die Kompetenz wurde im Gespräch nicht erkennbar oder nicht angesprochen.

2 Sterne – Eindeutiges Nein: Klare Hinweise, dass die Kompetenz nicht erfüllt wird. Keine relevanten Beispiele oder Erfahrungen.

3 Sterne – Nein/Teilweise: Begrenzte Nachweise, unvollständige Erfüllung. Beispiele zeigen Unsicherheiten oder Lücken.

4 Sterne – Ja/Erfüllt: Die Kompetenz wird wie erwartet erfüllt. Klare, passende und rollenspezifische Antworten mit konkreten Beispielen.

5 Sterne – Starkes Ja/Übererfüllt: Erwartungen werden durch fortgeschrittene Fähigkeiten übertroffen. Herausragend reflektierte Antworten mit nachweisbaren Erfolgen.​

Verhaltensanker definieren: Was ist eine gute Antwort?

Lege für jede Frage konkrete Verhaltensanker fest, die beschreiben, welche Antwortinhalte zu welcher Bewertung führen. Dies ist der entscheidende Schritt, um Subjektivität zu minimieren.​

Beispiel: Kommunikationsfähigkeit

1 Stern: Keine Aussage zur Kommunikationsfähigkeit möglich.

2 Sterne: Kandidat*in hat sichtbare Schwierigkeiten, Ideen klar zu formulieren. Zeigt mangelhaftes Zuhörverhalten. Kann kein relevantes Beispiel nennen.

3 Sterne: Kommuniziert grundsätzlich verständlich, aber Herausforderungen bei der Artikulation komplexer Gedanken. Hört zu, übersieht jedoch wichtige Punkte.

4 Sterne: Hört aktiv zu, teilt Informationen offen und klar. Passt Kommunikation an das Gegenüber an. Nennt überzeugendes Beispiel mit konkreter Situation, eigenem Handeln und positivem Ergebnis.

5 Sterne: Teilt Informationen proaktiv und strukturiert. Übernimmt abteilungsübergreifende Kommunikation. Geht Konflikte konstruktiv an. Mehrere starke Beispiele mit nachweisbarem Impact.​

Diese detaillierten Beschreibungen ermöglichen es verschiedenen Interviewer*innen, zu ähnlichen Bewertungen zu kommen, was die Interrater-Reliabilität erhöht.​

Gewichtung der Kompetenzen

Nicht alle Kompetenzen sind gleich wichtig für den Erfolg in der Position. Definiert daher eine Gewichtung, die bei der finalen Bewertung berücksichtigt wird.​

Beispiel Gewichtung für Junior Kundenberater*in:

  • Kommunikationsfähigkeit & Kundenorientierung: 30%
  • Fachkenntnisse Bankprodukte (gering da Junior Position): 10%
  • Vertriebsaffinität: 20%
  • Teamfähigkeit: 15%
  • Eigeninitiative & Lernbereitschaft: 25%​

Die Gesamtbewertung errechnet sich dann als gewichteter Durchschnitt der Einzelbewertungen. So kann eine Person mit Spitzenleistung in den Kernkompetenzen eine leichte Schwäche in weniger wichtigen Bereichen ausgleichen.

Der Bewertungsbogen

Dokumentation in Echtzeit

Erstellt einen standardisierten Bewertungsbogen, der während des Interviews ausgefüllt wird. Dieser sollte enthalten:​

  1. Kopfzeile: Name Kandidat:in, Datum, Position, Namen der Interviewer:innen
  2. Fragenliste: Alle vorbereiteten Fragen gruppiert nach Kompetenzen
  3. Bewertungsfelder: Für jede Frage ein Feld zur Punktevergabe (1-5)
  4. Notizbereich: Platz für Stichworte zur Antwort, besondere Beobachtungen, konkrete Beispiele
  5. Gesamteinschätzung: Zusammenfassung Stärken/Schwächen, K.O.-Kriterien erfüllt, Empfehlung

Wichtig: Mach Dir während des Interviews Notizen, nicht erst danach. Das Gedächtnis ist trügerisch, besonders wenn Du mit mehreren Kandidat*innen an einem Tag sprichst. Studien zeigen, dass ohne Notizen vor allem die Anfangs- und Schlussphase des Gesprächs im Gedächtnis bleiben (Primacy-Recency-Effekt), während wichtige Informationen aus der Mitte verloren gehen.​

Schritt 4 für den Aufbau eines strukturierten Interviewleitfadens

Ablauf und Struktur des Interviews

Ein strukturiertes Interview folgt einem standardisierten Ablauf, der für alle Kandidat*innen identisch ist. Diese Konsistenz ist entscheidend für die Vergleichbarkeit und verhindert, dass manche Bewerbende durch einen günstigeren Gesprächsverlauf bevorzugt werden.​

Zeitplanung: Die 5 Phasen im Überblick

Ein typisches strukturiertes Interview dauert 45 bis 60 Minuten für mittlere Positionen, bei hochqualifizierten Fach- und Führungskräften kann es auch bis zu zwei Stunden dauern.​

1. Phase: Begrüßung & Smalltalk (5 Minuten)

  • Kurze Begrüßung und Vorstellung aller Anwesenden
  • Lockerung der Atmosphäre („Wie war die Anreise?“, „Haben Sie gut hergefunden?“)
  • Getränk anbieten
  • Kurzer Überblick über den geplanten Ablauf und die Dauer​

2. Phase: Vorstellung Unternehmen & Position (5 Minuten)

  • Der Gastgeber stellt das Unternehmen kurz vor
  • Details zur ausgeschriebenen Stelle und Erwartungen
  • Einbettung der Position ins Team und die Organisation​

3. Phase: Selbstvorstellung Kandidat*in (5-10 Minuten)

  • „Erzählen Sie doch mal etwas über sich!“
  • Kompakte Selbstpräsentation des beruflichen Werdegangs
  • Motivation für die Bewerbung
  • Kurze Erläuterung der STAR-Methode für die folgenden Fragen​

4. Phase: Strukturiertes Interview – Kompetenzfragen (30-40 Minuten)

  • Systematisches Durchgehen des vorbereiteten Fragenkatalogs
  • Notizen zu jeder Antwort
  • Bei vagen Antworten: Nachfragen stellen („Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?“)
  • Keine spontanen Abschweifungen, aber aktives Zuhören​

5. Phase: Rückfragen & Verabschiedung (5-10 Minuten)

  • Raum für Fragen des Kandidaten/der Kandidatin
  • Ausblick auf das weitere Vorgehen (Zeitplan, nächste Schritte)
  • Wertschätzende Verabschiedung​

Das multimodale Interview

Struktur mit Flexibilität

Um das strukturierte Interview weniger starr wirken zu lassen, könnt Ihr Euch am Modell des multimodalen Interviews (MMI) nach Heinz Schuler orientieren. Dieses bettet die strukturierten Fragen in einen flexibleren Gesprächsrahmen ein, ohne die wissenschaftliche Fundierung zu verlieren.​

Der Unterschied liegt vor allem im Kommunikationsstil: Auch wenn die Fragen festgelegt sind, dürft Ihr diese freundlich und gesprächig stellen, aktiv zuhören und durch Mimik und Körpersprache Interesse zeigen. Es geht nicht darum, Fragen mechanisch abzuarbeiten wie bei einem Verhör, sondern einen professionellen Dialog zu führen, bei dem die Struktur im Hintergrund für Qualität sorgt.​

Interviewteam

Wer sollte dabei sein?

Idealerweise werden strukturierte Interviews im Tandem durchgeführt:​

Person 1 (Gesprächsführung): Stellt die Fragen, führt durch das Interview, achtet auf die Zeit, schafft eine angenehme Atmosphäre.

Person 2 (Protokollführung): Macht sich detaillierte Notizen zu den Antworten, beobachtet Körpersprache und non-verbale Signale, vergeben erste Bewertungen.

Nach dem Interview tauschen sich beide über ihre Eindrücke aus und konsolidieren ihre Bewertungen. Dieses Mehraugenprinzip erhöht die Objektivität erheblich und reduziert Beobachtungsfehler.​

Bei Führungspositionen oder kritischen Rollen können auch drei bis vier Interviewer*innen beteiligt sein, etwa HR, direkte Führungskraft und eine Vertreterin des Teams. Wichtig ist dann, dass jede*r zunächst unabhängig bewertet, bevor die Einschätzungen gemeinsam besprochen werden.​

Tipps für eine wertschätzende Gesprächsführung

Trotz der Struktur sollte das Interview nie wie ein Verhör wirken. Einige Tipps für eine angenehme Atmosphäre:​

  • Aktives Zuhören: Halte Augenkontakt, nicke zustimmend, zeige durch Mimik, dass Du interessiert bist
  • Wertschätzung: „Danke für dieses konkrete Beispiel“ oder „Das ist sehr interessant“
  • Pausen zulassen: Gib Kandidat*innen Zeit zum Nachdenken, unterbrich nicht vorschnell
  • Bei Nervosität unterstützen: „Nehmen Sie sich ruhig einen Moment Zeit“ oder „Es gibt keine falschen Antworten“
  • Offene Körpersprache: Vermeide verschränkte Arme, lehn Dich leicht nach vorne, lächele​

Schritt 5 für den Aufbau eines strukturierten Interviewleitfadens

Nachbereitung und Auswertung

Die Qualität eines strukturierten Interviews zeigt sich besonders in der systematischen Nachbereitung. Dieser Schritt wird oft unterschätzt, ist aber entscheidend für die finale Auswahlentscheidung.​

Sofortige Bewertung: Frische Eindrücke nutzen

Bewerte die Kandidat*innen direkt im Anschluss an das Interview, solange die Eindrücke noch frisch sind. Studien zeigen, dass bereits nach wenigen Stunden Details vergessen werden oder durch nachfolgende Gespräche überlagert werden.​

Nehmt Euch als Interviewteam 15-20 Minuten Zeit, um:

  1. Eure Notizen zu vervollständigen und unleserliche Stichworte auszuformulieren
  2. Für jede Kompetenz eine Punktzahl zu vergeben anhand der vorab definierten Verhaltensanker
  3. Stärken und Entwicklungsfelder der Kandidat*in zu benennen
  4. Zu prüfen, ob alle K.O.-Kriterien erfüllt sind
  5. Eine erste vorläufige Empfehlung abzugeben: „Einstellung empfehlen“ / „Eher nicht empfehlen“ / „Unentschieden, weitere Runde“​

Konsolidierung bei mehreren Interviewern

Wenn mehrere Personen am Interview beteiligt waren, folgt nun der Konsolidierungsschritt. Jeder Interviewerin hat zunächst unabhängig bewertet – nun werden die Einschätzungen verglichen:​

  1. Übereinstimmungen identifizieren: In welchen Kompetenzen seid Ihr Euch einig?
  2. Abweichungen diskutieren: Wo gibt es unterschiedliche Bewertungen und warum? Welche konkreten Antworten oder Beobachtungen liegen den jeweiligen Einschätzungen zugrunde?
  3. Notizen abgleichen: Habt Ihr unterschiedliche Aspekte wahrgenommen? Ergänzt Eure Dokumentation
  4. Konsens finden: Einigt Euch auf eine gemeinsame Bewertung pro Kompetenz oder dokumentiert unterschiedliche Meinungen mit Begründung​

Moderne Interview-Apps können diesen Prozess digital unterstützen, indem sie die Bewertungen aller Interviewer*innen grafisch darstellen und Abweichungen sofort sichtbar machen.​

Vergleich und Ranking der Kandidat*innen

Nach mehreren Interviews erstellst Du eine Vergleichsmatrix aller Kandidat*innen:​

Kandidat*in / KompetenzPerson APerson BPerson C
Kommunikation453
Fachkenntnisse534
Vertrieb354
Team445
Eigeninitiative534
Gesamt (gewichtet)4,24,13,9

In Excel würde man diese Tabelle wahrscheinlich transponieren und man könnte die Kandidaten in die Zeilen schreiben.

Diese Matrix macht auf einen Blick sichtbar, wer in welchen Bereichen stark ist und erlaubt einen objektiven Vergleich. Achte dabei auf die gewichtete Gesamtbewertung unter Berücksichtigung der Kompetenzpriorisierung aus Schritt 3.

Das Bauchgefühl

Wann darf es mitspielen?

Strukturierte Interviews sollen Bauchentscheidungen reduzieren, aber nicht komplett eliminieren. Nach der systematischen Bewertung ist der richtige Zeitpunkt, auch das Bauchgefühl zu Rate zu ziehen:​

  • Gibt es trotz guter Bewertungen ein ungutes Gefühl? Was genau löst dieses aus?
  • Passt die Person wirklich ins Team und zur Unternehmenskultur?
  • Würdet Ihr gerne mit dieser Person zusammenarbeiten?

Wichtig: Das Bauchgefühl darf die datenbasierte Bewertung ergänzen, aber nicht dominieren. Dokumentiere, wenn Du aufgrund eines Bauchgefühls von der Punktzahl abweichst, und begründe diese Entscheidung nachvollziehbar.​

Dokumentation und Rechtssicherheit

Bewahre alle Interviewunterlagen für mindestens 6 Monate auf, besser länger. Dies umfasst:​

  • Ausgefüllte Bewertungsbögen mit Notizen
  • Konsolidierte Gesamtbewertung
  • Begründung der Auswahlentscheidung

Diese Dokumentation bietet Rechtssicherheit, falls es zu Diskriminierungsvorwürfen oder Beschwerden über den Auswahlprozess kommt. Sie zeigt, dass alle Kandidat*innen fair und nach denselben Kriterien bewertet wurden.​

Tipps & Tricks: Häufige Fehler vermeiden

Auch bei sorgfältiger Planung gibt es Stolperfallen, die die Qualität strukturierter Interviews beeinträchtigen können. Hier die wichtigsten Do’s and Don’ts basierend auf wissenschaftlichen Erkenntnissen und Praxiserfahrung.

Die 7 häufigsten Fehler in strukturierten Interviews

Fehler 1: Unzureichende Vorbereitung
Interviewerinnen kennen das Anforderungsprofil nicht genau oder haben sich nicht mit den Bewerbungsunterlagen der Kandidatin beschäftigt.
Lösung: Mindestens 30 Minuten vor dem Interview: Lebenslauf studieren, Anschreiben lesen, Fragenkatalog durchgehen, Bewertungsbogen vorbereiten.​

Fehler 2: Zu langatmige oder zu knappe Antworten nicht lenken
Manche Kandidat*innen schweifen ab, andere antworten einsilbig. 
Lösung: Bei Abschweifungen freundlich unterbrechen: „Das ist interessant, aber um die Zeit im Blick zu behalten, würde ich gerne auf den Kern zurückkommen.“ Bei knappen Antworten nachfragen: „Können Sie das mit einem konkreten Beispiel verdeutlichen?“​

Fehler 3: Suggestivfragen stellen
„Sie sind doch sicher teamfähig, oder?“ suggeriert die erwünschte Antwort.
Lösung: Formuliert neutral und offen: „Welche Erfahrungen haben Sie in der Zusammenarbeit mit Teams gemacht?“​

Fehler 4: Bewertung erst Tage später vornehmen
Details werden vergessen, Kandidat*innen verschwimmen ineinander.
Lösung: Sofortige Bewertung direkt nach jedem Interview, bevor das nächste beginnt.​

Fehler 5: Zu viel reden statt zuhören
Interviewerinnen erzählen ausführlich vom Unternehmen und lassen zu wenig Raum für Kandidatinnen.
Lösung: 70/30-Regel – Kandidatin spricht 70%, Interviewerin 30% der Zeit.​

Fehler 6: Kognitive Überlastung der Kandidat*innen
Zu viele komplexe Fragen hintereinander überfordern.
Lösung: Nach anspruchsvollen Fragen eine kurze Pause einlegen oder eine einfachere Frage stellen.​

Fehler 7: Unterscheidung zwischen maximaler und typischer Leistung ignorieren
Die Frageformulierung muss klar machen, ob Alltagsverhalten (typisch) oder Bestleistung (maximal) abgefragt wird.
Beispiel maximal: „Beschreiben Sie Ihre größte berufliche Leistung.“ 
Beispiel typisch: „Wie gehen Sie normalerweise mit Konflikten im Team um?“​

Best Practices für exzellente Interviews

Interviewtraining für alle Beteiligten
Auch erfahrene Führungskräfte profitieren von regelmäßigen Schulungen zu Interviewtechniken, unbewussten Vorurteilen und Fragetechniken. Investiere in 1-2-tägige Workshops, die sowohl Theorie als auch praktische Übungen mit Videofeedback umfassen.​

Kandidat*innen vorab informieren
Teilt im Einladungsschreiben mit, dass es sich um ein strukturiertes Interview handeln wird und dass konkrete Beispiele aus der beruflichen Praxis erwartet werden. Dies ermöglicht bessere Vorbereitung und reduziert Nervosität.​

Diversität im Interviewteam
Zusammensetzung aus unterschiedlichen Perspektiven (verschiedene Abteilungen, Hierarchieebenen, Geschlechter) reduziert Bias und führt zu ausgewogeneren Einschätzungen.​

Reflektorische Fragen einbauen
Nach biographischen oder situativen Fragen könnt Ihr Reflexionsfragen anschließen: „Was haben Sie aus dieser Situation gelernt?“ oder „Was würden Sie heute anders machen?“ Diese zeigen die Fähigkeit zur Selbstreflexion und Lernbereitschaft.​

Technologie nutzen, aber nicht ersetzen
Interview-Apps und KI-gestützte Tools können Transkription, Bewertungskonsolidierung und Dokumentation erheblich erleichtern. Aber: Die persönliche Interaktion und menschliche Einschätzung bleiben zentral. Technologie ist Werkzeug, nicht Ersatz.​

Tools und Software für strukturierte Interviews

Die Digitalisierung hat auch vor dem Recruiting nicht Halt gemacht. Moderne Interview-Apps und Software-Lösungen können den gesamten Prozess von der Fragenvorbereitung bis zur Auswertung unterstützen und dabei die wissenschaftliche Qualität sicherstellen.​

Interview-Apps: Digitale Leitfäden und Bewertung

Interview-Apps ermöglichen:​

  • Digitale Fragenkataloge: Drag & Drop-Konfiguration von Interviewleitfäden aus einem Bausteinkasten erprobter Fragen
  • Verhaltensanker: Für jede Frage sind Bewertungsstufen mit konkreten Beschreibungen hinterlegt
  • Parallele Bewertung: Bis zu vier Interviewer*innen geben unabhängig ihre Einschätzungen ab
  • Automatische Konsolidierung: Grafische Darstellung aller Bewertungen mit sofortiger Sichtbarkeit von Abweichungen
  • Notizen und Kommentare: Getrennte Erfassung von positiven und negativen Beobachtungen
  • Kandidatenvergleich: Automatische Rangordnung mit übersichtlichem Ampel-System
  • Export: Übertragung in Bewerbermanagement-Systeme

Auch Führungskräfte ohne umfangreiches Interview-Training können dank der Apps State-of-the-Art-Interviews führen, da die Struktur und Bewertungskriterien bereits eingebaut sind.​

KI-gestützte Transkription und Analyse

KI-Tools bieten:​

  • Echtzeit-Transkription: Automatische Verschriftlichung des Gesprächs während des Interviews
  • Strukturierte Berichte: Zusammenfassung der wichtigsten Aussagen nach Kompetenzfeldern
  • Stichwortsuche: Schnelles Auffinden relevanter Passagen in langen Interviews
  • Multilingual: Unterstützung verschiedener Sprachen und Dialekte

Wichtig: Bei Einsatz von Aufnahme- und Transkriptions-Tools ist die Einwilligung der Kandidat*in zwingend erforderlich. Kommuniziere dies transparent bereits in der Einladung und hole eine schriftliche Bestätigung ein.​

Bewerbermanagement-Systeme mit Interview-Modulen

Viele Applicant Tracking Systems (ATS) bieten integrierte Interview-Module:​

  • Terminfindung und automatische Einladungen
  • Zugriff auf Bewerbungsunterlagen während des Interviews
  • Bewertungsbögen direkt im System
  • Statusverfolgung im Recruiting-Prozess
  • DSGVO-konforme Datenspeicherung

Für kleinere Unternehmen ohne umfangreiches ATS gibt es auch Excel-Vorlagen zur Verwaltung von Kandidat*innen und Interview-Bewertungen.​

Schulung und Entwicklung

Interviewer-Kompetenz aufbauen

Die beste Struktur nützt wenig, wenn die Interviewer*innen nicht in der Lage sind, sie professionell umzusetzen. Interviewtraining ist eine Investition, die sich in besserer Auswahlqualität und gestärkter Arbeitgebermarke auszahlt.​

Inhalte eines professionellen Interviewtrainings

Ein umfassendes Training sollte folgende Elemente enthalten:​

Theoretische Grundlagen (20%)

  • Wissenschaftliche Basis strukturierter Interviews
  • Validität verschiedener Auswahlverfahren
  • Rechtliche Rahmenbedingungen (AGG, DSGVO)
  • Unbewusste Vorurteile (unconscious bias) erkennen

Fragetechniken (30%)

  • Offene vs. geschlossene Fragen
  • STAR-Methode als Antwortstruktur
  • Nachfragetechniken bei vagen Antworten
  • Reflektorische Fragen zur Selbsteinschätzung

Gesprächsführung (20%)

  • Aktives Zuhören und Rapport aufbauen
  • Non-verbale Kommunikation deuten
  • Umgang mit schwierigen Interviewsituationen
  • Wertschätzender Umgang trotz Struktur

Bewertung und Entscheidungsfindung (20%)

  • Anwendung von Bewertungsschemata
  • Dokumentation und Notizen
  • Konsolidierung im Team
  • Umgang mit Bauchgefühl vs. Daten

Praktische Übungen (10%)

  • Rollenspiele mit Videofeedback
  • Analyse von Beispielinterviews
  • Übung an echten Fällen
  • Peer-Feedback und Reflexion​

Frame-of-Reference Training: Bewertungsstandards vereinheitlichen

Ein besonders wirksamer Ansatz ist das Frame-of-Reference Training (FOR). Dabei werden alle Interviewer*innen im Team gemeinsam geschult, was genau unter den verschiedenen Kompetenzen zu verstehen ist und wie diese in Interviewantworten erkennbar werden.​

Beispiel: Das gesamte Team schaut gemeinsam aufgezeichnete Beispielinterviews und bewertet diese zunächst individuell. Anschließend werden die Bewertungen verglichen und diskutiert, bis ein gemeinsames Verständnis entsteht, was z.B. eine „4“ bei Teamfähigkeit ausmacht. Dieses Training erhöht die Interrater(Beurteiler)-Reliabilität erheblich.​

Kontinuierliche Weiterentwicklung

Interviewkompetenz ist keine einmalige Sache. Etabliert regelmäßige Reflexionsrunden im Recruiting-Team:​

  • Monatliche Review-Meetings: Welche Interviews liefen gut, wo gab es Herausforderungen?
  • Jährliche Auffrischungsworkshops
  • Peer-Shadowing: Erfahrene Interviewerinnen begleiten neue Kolleginnen
  • Evaluation: Befragt neue Mitarbeitende nach 6 Monaten, wie hilfreich das strukturierte Interview für ihre Entscheidung war

Anpassung für verschiedene Positionen und Branchen

Strukturierte Interviews sind universell einsetzbar, sollten aber an die spezifischen Anforderungen der jeweiligen Position und Branche angepasst werden. Hier einige Überlegungen für unterschiedliche Kontexte.​​

Berufseinsteiger*innen vs. erfahrene Fachkräfte

Für Berufseinsteiger*innen (z.B. Trainees, Junior-Positionen):

  • Mehr situative Fragen, da noch wenig Berufserfahrung vorhanden ist​
  • Fragen zu Praktika, Werkstudententätigkeiten, Uni-Projekten
  • Fokus auf Lernbereitschaft und Potenzial statt rein auf Erfahrung
  • Beispiel: „Stellen Sie sich vor, Sie müssen eine Präsentation halten und merken kurz vorher, dass wichtige Daten fehlen. Wie gehen Sie vor?“

Für erfahrene Fachkräfte (Mid-Level, Senior):

  • Überwiegend biographische Fragen zu konkreten Projekten und Erfolgen​
  • Tiefe fachliche Fragen zur Expertise
  • Fokus auf nachweisbare Erfolge und Führung/Verantwortung
  • Beispiel: „Beschreiben Sie das komplexeste Projekt, das Sie geleitet haben. Welche Herausforderungen gab es und wie haben Sie diese gemeistert?“

Führungspositionen: Zusätzliche Dimensionen

Bei Führungskräften kommen zusätzliche Fragefelder hinzu:​

  • Führungsstil: „Beschreiben Sie Ihren Führungsstil. Wie führen Sie Ihre Mitarbeitenden?“
  • Strategisches Denken: „Wie haben Sie eine langfristige Strategie für eine Abteilung entwickelt und erfolgreich umgesetzt?“
  • Change-Management: „Erzählen Sie von einer Veränderung, die Sie im Unternehmen vorangetrieben haben. Wie haben Sie Widerstände überwunden?“
  • Konfliktmanagement: „Wie gehen Sie mit einem Teammitglied um, das dauerhaft unterdurchschnittliche Leistung bringt?“
  • Delegation: „Wie entscheiden Sie, welche Aufgaben Sie delegieren und welche Sie selbst erledigen?“​

Branchenspezifische Anpassungen

Banken und Finanzdienstleistungen: Starker Fokus auf Compliance, Integrität, Umgang mit vertraulichen Daten und regulatorischen Anforderungen​

IT und Tech: Technische Kompetenzfragen, Coding-Challenges, Fragen zu agilen Methoden, Innovation und kontinuierlichem Lernen

Vertrieb und Sales: Abschlussorientierung, Umgang mit Ablehnung, Kundenbeziehungsaufbau, Verhandlungsgeschick

Soziale Berufe: Empathie, Konfliktfähigkeit, Belastbarkeit in emotional fordernden Situationen, ethische Entscheidungsfindung

Kreativbranchen: Zusätzlich Portfolio-Review, Fragen zum kreativen Prozess, Umgang mit Kritik, Zusammenarbeit mit anderen Kreativen

Rechtliche Aspekte und Fairness

Strukturierte Interviews bieten nicht nur bessere Auswahlqualität, sondern auch erhöhte Rechtssicherheit. Dennoch gibt es rechtliche Rahmenbedingungen, die Ihr beachten müsst.​

AGG-Konformität: Diskriminierung vermeiden

Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) verbietet Diskriminierung aufgrund von Geschlecht, ethnischer Herkunft, Religion, Weltanschauung, Behinderung, Alter oder sexueller Identität. Strukturierte Interviews unterstützen die AGG-Konformität, indem sie:​

  • Alle Kandidat*innen nach denselben Kriterien bewerten
  • Dokumentation bieten, dass die Entscheidung auf jobrelevanten Faktoren basiert
  • Objektivität durch standardisierte Bewertung erhöhen

Unzulässige Fragen vermeiden: Fragt nicht nach Schwangerschaft, Familienplanung, Religion, politischer Orientierung oder Gesundheitszustand (außer bei jobrelevanten Anforderungen). Fragt auch nicht nach dem Alter – dieses solltet Ihr bereits aus den Bewerbungsunterlagen kennen, falls nicht, sollte es eher egal sein.

DSGVO: Datenschutz bei Interviews

Die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) gilt auch für Interviewnotizen und Aufzeichnungen:​

  • Hole explizite Einwilligung ein bei Audio- oder Videoaufnahmen
  • Speichere Interviewunterlagen sicher und nur für berechtigte Personen zugänglich
  • Lösche Daten von nicht berücksichtigten Kandidat*innen nach einer angemessenen Frist (i.d.R. 6 Monate nach Abschluss des Auswahlprozesses)
  • Informiere Kandidat*innen über ihre Rechte (Auskunft, Löschung, Berichtigung)

Transparenz gegenüber Kandidat*innen

Candidate Experience ist ein wichtiger Faktor für Eure Arbeitgebermarke. Strukturierte Interviews können dazu beitragen:​

  • Vorabinformation: Erklärt im Einladungsschreiben, dass es sich um ein strukturiertes Gespräch handelt
  • Während des Interviews: Seid transparent über den Ablauf („Ich stelle Ihnen nun einige Fragen zu verschiedenen Kompetenzbereichen“)
  • Feedback: Bietet auf Wunsch Feedback zum Interview an – selbst abgelehnten Kandidat*innen
  • Schnelligkeit: Dank strukturierter Bewertung könnt Ihr schneller Entscheidungen treffen und kommunizieren

Praxisbeispiel

Strukturiertes Interview für Junior Kundenberater*in

Um das Gelernte zu konkretisieren, schauen wir uns ein vollständiges Beispiel aus der Praxis an – das strukturierte Interview für einen **Junior Kundenberaterin im Privatkundengeschäft einer Bank**.​

Anforderungsprofil und Kompetenzen

Fachliche Anforderungen:

  • Grundkenntnisse Bankprodukte (Girokonto, Kredit, Sparanlagen)
  • Erfahrung in Beratung und Vertrieb
  • Basiskenntnisse Risikobewertung und Regulatorik
  • Umgang mit digitaler Banktechnik

Überfachliche Kompetenzen:

  • Kommunikationsfähigkeit & Kundenorientierung (Gewichtung: 30%)
  • Vertriebsaffinität / Abschlussorientierung (20%)
  • Teamfähigkeit (15%)
  • Eigeninitiative & Lernbereitschaft (10%)
  • Vertrauenswürdigkeit/Integrität (25%)​

Beispielhafte Interviewfragen

1. Kommunikationsfähigkeit & Kundenorientierung

Frage 1: „Beschreiben Sie eine Situation, in der Sie einem schwierigen Kunden weiterhelfen konnten. Wie sind Sie vorgegangen?“

Erwartete Inhalte für 4-5 Punkte:

  • Konkrete Situation mit herausforderndem Kunden
  • Aktives Zuhören, Verständnis zeigen
  • Lösungsorientiertes Vorgehen
  • Positives Ergebnis (zufriedener Kunde)
  • Reflektiertes Vorgehen​

Frage 2: „Wie stellen Sie sicher, dass der Kunde sich verstanden und gut beraten fühlt?“

2. Vertriebsaffinität / Abschlussorientierung

Frage 1: „Erzählen Sie von einer Situation, in der Sie ein Produkt aktiv empfohlen haben. Was war das Ergebnis?“

Frage 2: „Wie gehen Sie mit Ablehnung durch Kund*innen um?“​

3. Fachkenntnisse Bankprodukte

Frage: „Nennen Sie drei typische Bankprodukte für Privatkund*innen und erklären Sie jeweils kurz deren Nutzen.“

Erwartete Stichpunkte:

  • Girokonto: Zahlungsverkehr, Gehaltseingang, bargeldloses Zahlen
  • Kreditkarte: Flexibles Bezahlen, Online-Shopping
  • Sparanlagen: Sicherheit, Vermögensaufbau, Zinsen​

4. Regulatorik (Geldwäsche, Datenschutz)

Frage: „Können Sie kurz erläutern, warum aus Sicht der Bank das Geldwäschegesetz besonders wichtig ist?“

Erwartete Stichpunkte:

  • Verhinderung illegaler Geldflüsse/Kriminalität
  • Schutz der Bank vor Bußgeldern/Reputationsschäden
  • Gesetzliche Pflicht zur Identitätsprüfung​

Bewertungsraster und Entscheidung

Jede Kompetenz wird auf der 5-Punkte-Skala bewertet. Ein Kandidat könnte folgendes Profil zeigen:

KompetenzBewertungGewichtungGewichtete Punktzahl
Kommunikation & Kundenorientierung530%1,5
Vertriebsaffinität420%0,8
Teamfähigkeit415%0,6
Eigeninitiative & Lernbereitschaft410%0,4
Integrität525%1,25
Gesamt100%4,55

Mit einer gewichteten Gesamtbewertung von 4,55 liegt dieser Kandidat im Spitzenbereich und würde eine klare Einstellungsempfehlung erhalten.​

Fazit

Strukturierte Interviews als Schlüssel zu besseren Einstellungen

Strukturierte Interviews sind kein Nice-to-have, sondern ein Must-have für professionelles Recruiting. Mit einem Validitätskoeffizienten von 0,58 übertreffen sie alle anderen gängigen Auswahlverfahren deutlich und helfen Euch, wirklich die besten Talente für Euer Unternehmen zu gewinnen.​

Der Aufwand für die Vorbereitung – Anforderungsprofil erstellen, Fragenkatalog entwickeln, Bewertungsschemata definieren – zahlt sich vielfach aus. Du triffst bessere Einstellungsentscheidungen, reduzierst kostspielige Fehlbesetzungen, erhöhst Fairness und Rechtssicherheit im Auswahlprozess und stärkst die Arbeitgebermarke durch eine professionelle Kandidatenerfahrung.​

Die wichtigsten Erfolgsfaktoren noch einmal zusammengefasst:

  1. Anforderungsprofil als Fundament: Überlege genau, wen Du suchst, bevor das erste Interview geführt wird
  2. Verhaltensbasierte Fragen: Fragt nach konkreten Beispielen statt theoretischen Einschätzungen
  3. Standardisierte Bewertung: Nutzt Bewertungsschemata mit klaren Verhaltensankern
  4. Strukturierter Ablauf: Alle Kandidat*innen durchlaufen dasselbe Interview
  5. Sofortige Dokumentation: Notizen während des Gesprächs und Bewertung direkt im Anschluss
  6. Mehraugenprinzip: Mehrere Interviewer*innen erhöhen Objektivität
  7. Kontinuierliche Weiterentwicklung: Investiert in Training und Reflexion

Starte noch heute damit, Dein erstes strukturiertes Interview aufzubauen. Nutze die Vorlagen aus diesem Artikel, passe sie an Deine spezifischen Anforderungen an und erlebe, wie sich die Qualität Deiner Auswahlentscheidungen verbessert. Deine zukünftigen Top-Mitarbeitenden werden es Dir danken!

FAQ

Was ist ein strukturiertes Interview?

Ein strukturiertes Interview ist ein standardisiertes Auswahlverfahren, bei dem alle Bewerbenden dieselben Fragen in derselben Reihenfolge beantworten. Dadurch wird die Vergleichbarkeit und Objektivität erhöht.

Warum sind strukturierte Interviews besser als unstrukturierte?

Weil sie faire und objektive Entscheidungen ermöglichen, Bias reduzieren und die Qualität von Neueinstellungen verbessern. Studien zeigen, dass sie die höchste Prognosekraft für Berufserfolg haben.

Wie bereite ich ein strukturiertes Interview vor?

Definiere zuerst die Anforderungen der Position, entwickle verhaltensbasierte Fragen (z. B. mit der STAR-Methode) und lege klare Bewertungskriterien fest.

Welche Tools unterstützen strukturierte Interviews?

Moderne Applicant-Tracking-Systeme (ATS), Scorecard-Funktionen, Interview-Feedback-Tools und digitale Bewertungsplattformen erleichtern Planung, Dokumentation und Vergleichbarkeit.

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